2015 – Jan Wawrzyniak
Unfinished
03.05.2015 – 21.06.2015
Ausstellungseröffnung: 03.05.2015
Einführung: Prof. Dr. Erich Franz, Münster

Man muss eigentlich nicht erklären, was man hier sieht: In einer großen gerahmten Zeichnung umfahren drei Linien eine rhombische Fläche, die nach links offen ist und als verschobenes Rechteck erscheint. Man hat den Eindruck, als sei das Format, das die Zeichnung enthält, selbst räumlich in die Zeichnung hinein verschoben. Die untere Linie setzt sich weiter links unten in einer geraden gerissenen Kante eines schwarzen Papiers fort, umschlossen von einem zweiten, kleineren Rahmen. Eigentlich setzt sich nicht die Linie fort, sondern lediglich ihre Richtung; als Kante einer schwarzen Fläche ist sie keine gezeichnete Bewegung, sondern wirkt flächig und starr. Oben reicht der Linienverlauf der Rautenform nach links über den Rahmen hinaus und verläuft über eine kurze Strecke auf der Wand weiter, bevor er abbricht und bei einem Wandvorsprung wieder aufgenommen wird. Die Linie umfährt den Wandvorsprung, ihr Neigungswinkel bleibt weiterhin gleich, erscheint aber unterschiedlich schräg. In der Mitte des folgenden langen Wandabschnitts hängen zwei leere Zeichenkartons, einer hellgrau, einer fast schwarz. Jeder enthält einen Knick, der jener einheitlichen (vorgestellten) „Linie“ folgt. Durch die offene Tür zum angrenzenden Raum blickt man schließlich auf eine Videoprojektion, die das Zeichnen einer unendlichen geraden Linie dokumentiert: Ein Papierband wird in zeitlichen Abständen unter einem Stück Zeichenkohle hindurchgezogen, das von einer ruhigen Hand gehalten wird. Man verfolgt, wie die „Zeichnung“ einer unbegrenzten Linie entsteht. In der Vorstellung verbindet man sie mit der ansteigenden Linie, die den Ausstellungsraum durchzieht und in gleichem Winkel ansteigt wie in der Videoprojektion. In dem Buch, das aufgeschlagen auf einem Sockel liegt, ist diese unendliche Linie abgedruckt – hier setzt sie sich also im Grunde weiter fort. Die Linie zieht sich also durch die gesamte Ausstellung. Eigentlich sieht man sie als solche gar nicht, man sieht nur kleine Ausschnitte, die in Wirklichkeit immer wieder eine ganz andere Linie zeigen.
Zuerst, wenn Sie hereingekommen sind, haben Sie hauptsächlich leere Wände gesehen. Und nun „sehen“ Sie eine durchgehende Linie, die nicht nur über die Wand läuft, sondern sich durch den ganzen Raum zieht. Sie sehen tatsächlich eine Linie, die den gesamten Raum verändert, die sich durch ihn hindurchzieht und sich dabei immer auch verwandelt – auf ein Papier gezeichnet (mit räumlichen Vorstellungen), auf die Wand gezeichnet, in zwei Kartons geknickt, als Prozess in einem Video festgehalten… Sie sehen also etwas, was Sie nicht sehen. Sie stellen es sich nur vor – aus den sichtbaren Fragmenten und aus Ihren Erinnerungen von dem, was Sie gesehen haben. Und das, was Sie nicht sehen und doch sehen, braucht man eigentlich nicht zu erklären – es entsteht als Ihre eigene Vorstellung aus dem, was Sie ganz konkret und real vor Augen haben.
Die Formen, die man in Wawrzyniaks Werken sieht, erscheinen sehr deutlich: Man sieht einzelne gerade Linien und dunkle Flächen, die gegen helle Partien kontrastiert sind. Und dennoch ist man sich nicht sicher über das, was man sieht. Das Erkennen wird zu einem Prozess, der keinen Abschluss findet.
Vergleicht man Werke von anderen Künstlern, die ebenfalls mit geometrischen Linien und Flächen arbeiten, so wird sofort die völlig andere Haltung bei Jan Wawrzyniak deutlich. Keine Fläche, keine Linie steht bei ihm „konkret“ und „real“ vor Augen. Nichts erscheint fest – als geometrische Form, sondern alles deutet sich nur an. Alles ist Zeichnung, mit Zeichenkohle angedeutet, und auch die homogenen Flächen sind aus gewischtem Kohlestaub gebildet und wirken nicht fest, sondern empfindlich.
Beim Sehen der gezeichneten Linien und unvollständigen Flächen aktiviert man unwillkürlich eigene räumliche Erfahrungen, eigene Orientierungsansätze und Bewegungsvorstellungen. Und diese Raum- und Bewegungsvorstellungen bringen genau die Linien und Flächen, die wir gerade erkannt haben, wieder ins Wanken.
Jan Wawrzyniak ist vor allem durch großformatige Zeichnungen mit Kohle auf weiß grundiertem Baumwollgewebe bekannt geworden. In sogenannten „broken drawings“ griffen die Zeichnungen auf den realen Raum über. Im vorigen Jahr hat er im Museum Wiesbaden einen Raum mit einer gezeichneten Linie „ausgefüllt“, wenn man das so sagen will, und diese Ausstellung im Kunstverein Lippstadt, die Wawrzyniak für diesen Raum konzipiert hat, bedeutet einen weiteren wichtigen Schritt in der Verwandlung des realen Raums zum Kunstwerk.
Der 1971 in Leipzig geborene und in Berlin lebende Künstler hat sich in der „Wende“- Zeit in Leipzig autodidaktisch ausgebildet. Schon damals ging es ihm eigentlich nicht darum, etwas zu gestalten und Kunstwerke herzustellen, sondern er wollte etwas ausdrücken, was ihm wichtig war, etwas von seiner Lebensauffassung. Er war dann ziemlich erfolgreich mit einigen Galerie- und Museumsausstellungen, aber er war kein angepasster Künstler. Ich denke, auch in dieser Ausstellung wird deutlich, dass er den Betrachter dazu bringen will, mehr zu sehen als nur Formen. Wawrzyniak führt den Betrachter zu intensiven Erfahrungen von suchender Orientierung. In einem früheren Text habe ich einmal von „gleitender Ortlosigkeit“ gesprochen. Dazu kommentierte der Künstler: „Die Formulierung der ‚gleitenden Ortlosigkeit’ entspricht genau dem, was ich seit meiner Kindheit in einem Leipziger Plattenbau mit mir herumtrage. Umso schöner ist es, bestätigt zu bekommen, dass sie sich offenbar bis in meine Bilder trägt und daraus ableitbar ist. Das ist ja der Gedanke des Fremdkörpers, der sich zwar zeigt, aber eben auch nicht: der sich hinter dem, was er zeigt, verbirgt.“ – Das Kunstwerk als „Fremdkörper“.
Wie wir „sahen“, besteht also die Ausstellung Unfinished im Kunstverein Lippstadt eigentlich aus nichts als einer einzigen geraden Linie. Man entdeckt diese optische Verbindung allerdings erst mit der Zeit, und auch, wenn man sie erkannt hat, verweigert sie die Sicherheit einer Leitlinie.
Hauptsächlich besteht sie aus Auslassungen, aus leeren Abständen zwischen heterogenen Elementen. Erst die orientierende Seh-Tätigkeit des Betrachters stellt ein Kontinuum her, das dennoch uneinheitlich bleibt, schwankend und haltlos. Einzelne Fragmente enthalten eine schräg absteigende Linie, deren Richtung sich an anderen Elementen fortsetzt. Doch erfahren wir an dieser „Linie“ vor allem Brüche des Sichtbaren und des Sehens. Diese Linie hat keine Form und bildet auch keine Form. Im Gegenteil, sie hebt den Raum, durch den sie sich zieht, in seiner Überschaubarkeit auf. Als Linie ist sie nicht anschaubar, ihre vorgestellte Einheit lässt einen schwindeln. Man findet keinen Halt. Jan Wawrzyniak sagte einmal im Gespräch mit Ulrike Kregel: „Die Perspektiven, mit denen ich arbeite, sind immer nur angedeutet – man kann sie auch als Sackgassen bezeichnen. Ich entwerfe verschiedene Linien, die dem Blick eine Bahn bereiten und ihn dann auflaufen lassen.“ Auch zeitlich reicht die Linie über Gegenwart und Vergangenheit hinaus. Das Video zeigt die gerade Spur eines Kohlestiftes mit einer Länge von über 15 m. Wawrzyniak hat sie 2014 für einen Raum im Museum Wiesbaden hergestellt. Die vergangene Aktion wird in dieser Ausstellung zu einer gegenwärtigen Bewegung, die der Besucher durch den Raum hinweg ausführt – „unfinished“, wie der Titel der Ausstellung sagt, unvollendet


